top of page

»Gedanken für den Tag«

AutorenbildAxel Kühner

Der enttäuschte Rabbi

Ein Rabbi verkündigte jahrelang seiner Gemeinde Gottes Wort. Er wollte die Sünder mit Gottes Heiligkeit ermahnen und die Zaghaften mit Gottes Güte stärken. Eines Tages wurde er seiner Berufung überdrüssig und verließ enttäuscht die Synagoge. Verkleidet machte er sich auf die Wanderschaft und wollte nicht mehr Prediger sein. Er gelangte auf seiner Wanderung zu einer alten Frau, die sterbend in ihrer ärmlichen Hütte lag. "Warum bin ich geboren worden", fragte die alte Frau, "wenn nichts als Unglück mein Los war, solange ich mich erinnern kann?" "Damit du es ertragen und daran reifen solltest!" war die Antwort des verkleideten Rabbis. Das gab der alten Frau Trost und Ruhe zum Sterben. Als er das Bettuch über ihr Gesicht zog, beschloss er, von nun an stumm zu sein. - Am dritten Tag seiner Wanderung begegnete er einem jungen, bettelnden Mädchen, das sein totes Kind auf dem Rücken trug. Der Rabbi half, das Grab zu graben. Sie hüllten den mageren Körper in ein Tuch, legten ihn in die Grube, deckten sie zu, brachen das Brot, und auf jedes Wort des Bettelmädchens antwortete der Rabbi mit Gesten. "Das arme Kind hat nichts, weder Freude noch Schmerz gehabt. Glaubst du, es war wert, geboren zu werden?" Der Rabbi nickte, und das Mädchen war getröstet.


Daraufhin beschloss der Rabbi, fortan taub und stumm zu sein. Er versteckte sich vor der Welt in einer Höhle. Dort begegnete er niemandem außer einem Frettchen. Dessen Fuß war verletzt. Daher verband der Rabbi es und heilte es mit Blättern. Der Rabbi betete, und das Frettchen saß dabei. Die beiden gewöhnten sich aneinander und freundeten sich an. Eines Nachmittags stürzte sich ein Raubvogel vom Himmel und trug das Frettchen, das sich vor der Höhle in der Sonne räkelte, vor den Augen des Rabbi davon. Da dachte der Rabbi, es wäre besser, wenn er auch noch die Augen verschlösse. Aber so - blind, stumm und taub konnte er nichts anderes tun, als auf den Tod zu warten. Und der, das fühlte der Rabbi, würde es nicht eilig haben, ihn zu holen. So machte er sich auf und kehrte zu seiner Gemeinde zurück und predigte wieder die Worte Gottes den Menschen. Er tat, was er immer getan hatte. Aber er war nun stark in seiner Beschämung über seine Flucht. - Vielleicht möchten wir manchmal auch aus unserer Berufung fliehen und den Tauben, Blinden und Stummen spielen. Aber das bringt uns nur noch mehr Unglück. Darum bleiben wir treu in unserer Arbeit und werden nur stärker in der Demut und Liebe.


"Ein jeglicher bleibe in dem, darin er berufen ist!"

(I. Korinther 7,20)

 

Axel Kühner "Überlebensgeschichten für jeden Tag"

© 1991 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 21. Auflage 2018

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages


5 Ansichten0 Kommentare

Wohin soll das Leben gehen?

Leo Tolstoi fasste einmal seine Lebensgeschichte in einem Gleichnis zusammen. "Ich kam mir vor", so erzählte er, "wie ein Mensch, den man...

Es gilt

Ein Mitarbeiter im Besuchsdienst besucht in einer Großstadt die Leute in seinem Bezirk. Er kommt zu einer jungen Frau. Nach längerem...

Ein kleines Buch ganz groß

Der erste schottische Missionar, der nach Indien gesandt wurde, war Alexander Duff. Er wollte in Indien, dem Riesenland mit einer uralten...

Comments


Gedanken für den Tag

bottom of page