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»Gedanken für den Tag«

Der Reiz des Geheimnisvollen

  • Autorenbild: Axel Kühner
    Axel Kühner
  • 1. März
  • 2 Min. Lesezeit

Sonne und Mond waren verheiratet. Sie liebten einander sehr, aber sie waren unglücklich, denn Sonne war ein eifersüchtiger Ehemann. Er war eifersüchtig auf alle Gewässer, in welchen sich seine schöne Gemahlin spiegelte, er war eifersüchtig auf die Wolken, die großen und die kleinen, die still vorüberschwebten und Mond mit ihren flaumenweißen Flügeln verstohlen liebkosten, und er war eifersüchtig auf das Himmelsblau, in welchem sie sich sorglos dahintreiben ließ.

Mond war aber auch wirklich zu kokett! Jede Nacht ging sie allein und unverschleiert wie eine Christin aus! Sie stieg hinab zu den Seen und Teichen, um sich wohlgefällig zu betrachten, tauchte in tiefe Brunnen und schlüpfte durch Ranken und Blattwerk und allerfeinste Fensterritzen in die Kammern junger Schläfer, um sie zu necken.

Sonne stellte Mond deswegen zur Rede und sprach in vorwurfsvollem Ton: "Es ziemt sich nicht, dass du allein ausgehst und deine Schönheit jedermann sehen lässt! Eine Frau hat sittsam und bescheiden zu sein und sich zu bedecken; so schreibt es das Gesetz ihr vor! Also verbirg deine Schönheit in Zukunft hinter einem Schleier!"

Davon wollte Mond aber nichts wissen und gab trotzig zur Antwort: "Warum soll ich meine Schönheit verstecken? Du hast gut reden! Du spazierst den ganzen Tag in der Welt herum, während ich eingesperrt bin, und lässt mich des Nachts allein. Gibt es denn ein anderes - und unschuldigeres! - Vergnügen für mich, als mich ein wenig bewundern zu lassen?"

Da drohte Sonne: "Ich werde mir unter den schönen Gestirnen der Nacht eine neue Gemahlin wählen, die tugendhafter ist, als du es bist! Sieh dort die Venus! Sie glänzt klar und rein wie ein Tautropfen, wenn das erste Morgenlicht auf ihn fällt, und die Ferne umgibt sie mit einem Schleier aus Süße und Geheimnis. Ja, mein Entschluss steht fest: Ich werde mich mit Venus vermählen!"

Mond erschrak - und überlegte. War ein Schleier es wert, auf einen so strahlenden Gatten zu verzichten? "Nein", dachte sie, "nein!" Und sie versprach, den Schleier anzulegen. Fortan verbarg sie ihr Antlitz hinter den zarten Nebelgespinsten, welche in der Dämmerung von den Teichen aufsteigen, und hüllte sich in den milchigen Dunst, der sich des Nachts aus den feuchten Wiesen erhebt. So wurde sie noch schöner und wurde noch viel mehr geliebt, denn es war der Reiz des Geheimnisvollen um sie und jener Zauber, den das Verborgene besitzt. (Märchen aus Marokko)


Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier.

Hoheslied 4,1

 

Axel Kühner "Zuversicht für jeden Tag"

© 2002 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 7. Auflage

2017 / Mit freundlicher Genehmigung des Verlages


Ursprüngliche Veröffentlichung: 01.03.2021

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