Der ehemalige New Yorker Bürgermeister La Guardia vertrat manchmal den Polizeirichter. Eines kalten Wintertages führte man ihm einen abgerissenen, alten Mann vor. Er hatte aus einer Bäckerei ein Brot gestohlen. In der Vernehmung gab der Mann den Diebstahl zu und gab an, er habe das Brot nur genommen, weil seine Familie am Verhungern sei. Der Bürgermeister sprach das Urteil, denn das Gesetz erlaubte keine Ausnahme. So verurteilte er den armen Mann zur Zahlung von zehn Dollar Strafe. Dann griff er in die Tasche, gab dem Mann eine Zehndollarnote, damit er seine Strafe auch bezahlen konnte und freikam. Aber dann wandte er sich an die Zuhörer im Gerichtssaal, und zu ihrer Überraschung sagte La Guardia: "Und nun verurteile ich jeden Anwesenden im Gerichtssaal zu einer Geldbuße von fünfzig Cent, und zwar dafür, dass er in einer Stadt lebt, in der ein Mann ein Brot stehlen muss, um seine Familie vor dem Hungertod zu bewahren. Herr Gerichtsdiener, kassieren Sie die Geldstrafen sogleich und übergeben Sie sie dem Angeklagten!" - Der Hut machte nun die Runde, und der alte Mann konnte mit fast 50 Dollar in der Tasche den Gerichtssaal verlassen. Ein gutes Urteil, das uns an unsere Verantwortung füreinander erinnert. Bevor wir einander richten und verurteilen, anklagen oder bestrafen, wollen wir füreinander einstehen und miteinander teilen.
"Geben ist seliger als nehmen!"
(Apostelgeschichte 20,35)
Axel Kühner "Überlebensgeschichten für jeden Tag"
© 1991 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 21. Auflage 2018
Mit freundlicher Genehmigung des Verlages
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