In einer Stadt, deren Namen die Sage nicht zu nennen weiß, wurde einst ein stolzes Münster erbaut. Der Bischof rief die Gläubigen auf, Opfergaben für den Guss einer besonderen Glocke zu spenden. Da brachte auch eine arme Witwe einen einzigen abgegriffenen Silberpfennig. Der war ihr ganzes Vermögen. Ein Priester nahm das Opfer mit geringschätziger Miene entgegen, und kaum hatte die alte Frau den Raum verlassen, warf er die Münze mit den Worten aus dem Fenster: "Ein Bettelpfennig vom Bettelvolk. Was soll eine so kleine Gabe für eine so große Glocke?" Der Guss schien gelungen. Zum Osterfest sollte die Glocke geweiht werden. Doch sie gab nur einen dumpfen Ton von sich und verstummte dann ganz. Niemand konnte sich das erklären. Da flehte der Bischof Gott an, er möchte ihm die Ursache anzeigen. Da offenbarte ihm eines Nachts ein Engel im Traum, wie übel einer seiner Priester an der Gabe der armen Witwe gehandelt hatte. Der Bischof ließ den Mann kommen und stellte ihn zur Rede. Dann gingen beide in den Garten und suchten gemeinsam, bis sie das verschmähte Geldstück gefunden hatten. Nun ließ der Bischof die Glocke noch einmal gießen und gab ihr unter Gebeten den Silberpfennig bei. Und bald schallte die Glocke mit hellem Klang über die Dächer der Stadt. Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Denn sie haben alle etwas von ihrem Überfluss eingelegt; diese aber hat von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte. Markus 12,43f
Axel Kühner "Hoffen wir das Beste"
© 1997 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn, 9. Auflage 2016
Mit freundlicher Genehmigung des Verlage
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